Es ist an Ironie kaum zu überbieten, dass die Lesung anlässlich des 100. Geburtstags Carl Amerys eine der ersten Veranstaltungen war, die ohne Maske besucht werden konnten. Schließlich hatte er seinen Science-Fiction-Roman „Der Untergang der Stadt Passau“* auf 131 post pestilenziam (Anno Domini 2112) datiert.
1975 war seine „Fingerübung“, wie Amery die etwas mehr als 100 Seiten umfassende „Huldigung“ an seine Jugendstadt nannte, bei Heyne erschienen. Recht viel länger hätte der Text für eine Lesung auch nicht sein dürfen, so konnte er am 7. April 2022 in gut vier Stunden in der Staatlichen Bibliothek Passau von vier Lesern vorgetragen werden. Anlass für das Carl-Amery-Festival war der 100. Geburtstag, den der bereits 2005 Verstorbene am 9. April gefeiert hätte.
Dystopie aus Amerys Jugendstadt mit erschreckender Aktualität
Die „Stabi“ Passau war ein idealer Veranstaltungsort, denn „drüben“ im Leopoldinum hatte Christian Mayer, wie Amery bürgerlich hieß, das Gymnasium besucht, an dem auch seine Eltern unterrichteten. Er hatte denselben Lehrer wie der Eisner-Mörder Graf Arco.
Viele dieser historischen Verknüpfungen sind Gegenstand seiner literarischen Werke. (Wie vorzüglich die Darstellung der Verbindung des gräflichen Attentäters zum ehemaligen Hauslehrer in „Die Wallfahrer“* ist, wird in meiner Doktorarbeit erläutert.)
In „Untergang der Stadt Passau“ wird die Geschichte der Dreiflüssestadt mit einer dystopischen Situation verknüpft, die aufgrund des Ukraine-Kriegs irgendwie erschreckende Aktualität besitzt: Nach dem Ende der Elektrizität ist Passau, das bereits im Mittelalter durch Salz reich geworden war, wieder von großer Bedeutung im Salzhandel.
Ein bayerischer Querdenker
Amery haderte damit, dass das Genre Science-Fiction in der deutschen Literaturszene wenig anerkannt sei, weiß Filmemacherin Vera Botterbusch, die diesem bayerischen Patrioten für ihren Film „Die Zeit, die wir noch haben, Carl Amery – ein bayerischer Querdenker„, tief in die Seele geblickt hat. Vor der Lesung gab sie daher eine Einführung in Person und Werk. Dass der Begriff des Querdenkers heute negativ besetzt ist, habe sie in den 1990er Jahre nicht ahnen können. Das sei früher ja eine Wertschätzung gewesen, argumentierte sie.
Es ist ohnehin schwer, Carl Amery zu kategorisieren: War er doch nicht nur als Schriftsteller Mitglied der Gruppe 47, sondern auch z. B. Gründungsmitglied der Grünen oder Leiter der Münchner Stadtbibliothek. Botterbusch, deren Amery-Portrait auch im Rahmen des Festivals gezeigt wurde, sagte, dass das Science-Fiction Genres zu ihm passte da er das Leben immer für die Zukunft gedacht habe.
Zum Programm des Carl-Amery-Festivals.
Amerys Werke sind nicht unbedingt leichte Kost, aber persönlich berühren sie mich auf vielschichtige Weise… Daher sollte der „Der Untergang der Stadt Passau“ meines Erachtens – zumindest in seiner und meiner ehemaligen Schule, dem Leopoldinum – Pflichtlektüre werden.
Aktuell ist das Büchlein leider nur mehr antiquarisch zu erwerben. Wie schön, dass im Juni eine Neuauflage im SüdOstVerlag zu erscheinen scheint; sie kann hier* vorbestellt werden.