Am 31. Oktober 1517 schlägt Martin Luther an der Schlosskirche zu Wittenberg seine 95 Thesen an – Dass dies die Geburtsstunde der Reformation ist, wurde noch meinen Eltern im Religions- und Geschichtsunterricht vermittelt.
Gut, auch ich habe das noch in der Schule zu hören bekommen, aber das liegt nicht an historischen Fakten, sondern wohl eher am damaligen Lehrkörper… Denn dass der Thesenanschlag wohl ins Reich der Legenden abzutun ist, stellte der katholische Kirchenhistoriker Erwin Iserloh bereits zu Beginn der 1960er Jahre überzeugend dar. (Nachzulesen in einem nur dünnen Büchlein, einem gedruckten Vortrag Iserlohs: Iserloh, Erwin, Luthers Thesenanschlag. Tatsache oder Legende? (= Institut für europäische Geschichte Mainz. Vorträge Nr. 31), Wiesbaden 1962)
Erst Melanchthon spricht vom Thesenanschlag
So etwa sei von einem „Thesenanschlag“ erst bei Philipp Melanchthon – im Übrigen nach dem Tode seines Freundes Luther – in der Vorrede zum zweiten Band (1546) der Werke des Reformators die Rede. Nachweislich konnte Melanchthon überhaupt nicht Augenzeuge der Vorgänge in Wittenberg sein, da dieser 1517 noch in Tübingen lebte (vgl. Iserloh S. 32f.).
Hochgespielt wurde die Szene vom Thesenanschlag dann vor allem in der Lutherverehrung des 19. Jahrhunderts.
Ungenauigkeiten für den Hollywood-Effekt?
Auch in neuen Lutherverfilmungen wird der Thesenanschlag dargestellt – so etwa auch im Spielfilm „Luther“ aus dem Jahr 2003, in dem Joseph Fiennes den Reformator spielt. Der Film enthält mehrere historische Ungenauigkeiten, aber zentral falsch ist eben der Thesenanschlag. Warum machen das Filmproduzenten? Nun, vielleicht wüssten sie es ja sogar besser, aber der Thesenanschlag ist einfach eine sehr plakative Szene.
Ein Brief und kein Thesenanschlag am Reformationstag
Luther selbst spricht immer davon, dass er die Thesen erst der Öffentlichkeit zugänglich gemacht habe, nachdem ihm die Bischöfe nicht geantwortet hätten. Denn nachdem Luther gemerkt hatte, dass die marktschreierische Ablasspraxis des Dominikanermönchs Johannes Tetzel auf offizielle Anweisungen fußte, wandte er sich an seinen Bischof Hieronymus Schulz von Brandenburg und den Erzbischof Albrecht, als den zuständigen päpstlichen Ablasskommissar.
Luther bittet in diesem Brief – übrigens mit dem markanten Datum vom 31. Oktober 1517 erhalten – den Erzbischof seine Ablassinstruktion zurückzunehmen und den Predigern andere Anweisungen zu geben. Zudem solle er sich mit den beiliegenden Thesen (disputationes) auseinandersetzen.
Der Brief, der am 31. Oktober an die Bischöfe gesandt wurde, brauchte aber mindestens einige Tage. Und so stellte Iserloh überzeugend dar, dass das mit einem Anschlag der Thesen an der Schlosskirche zu Wittenberg am „Reformationstag“ nicht vereinbar ist (vgl. Iserloh, S. 29).
Lateinische Thesen nicht für Laien gedacht
Zudem betont Luther wiederholt, er habe die lateinischen Thesen nicht verbreiten wollen und habe sie nur an Gelehrte ausgegeben. In Latein verfasst, waren sie auch nicht an Laien gerichtet, sondern für die theologische Disputation bestimmt. Kollegen hätten sie, denen er die Thesen nach dem 31. Oktober zustellte, ohne sein Zutun handschriftlich vervielfältigt.
Absichtslos zum Reformator geworden
Hätte Luther ein gefälschtes Bild von den Ereignissen ein Leben lang aufrecht erhalten?
Ich meine, wie Erwin Iserloh, nicht. Doch fest steht, wenn der Thesenanschlag lediglich eine Legende ist, dann wird noch deutlicher, welch hohe Mitschuld die Kirche selbst am Ausbruch der Reformation trägt. Denn Luther hatte den Bischöfen ja Zeit gegeben, zu reagieren. Luther selbst hatte nie auf einen offenen Bruch mit der Kirche hin gesteuert – nahezu absichtslos wurde er so zum Reformator (vgl. Iserloh, S. 33f).